Empfänger unbekannt

Samstag, 26.10.2019 - Empfänger unbekannt

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Oktober 2019
Randless Gallery of Modern Art, Zollbrücke

 

Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern wurde eine Nutzungsänderung ihres Theaters auferlegt. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten betreiben sie nun eine Kunstgalerie und stecken mitten in der Vorbereitung einer Vernissage. Überraschend erreicht sie ein Anruf aus Amerika. Es wurden Briefe eines möglichen Verwandten Morgensterns gefunden.
Neugierig vertiefen die beiden sich in die Briefe und entführen die Zuschauer in eine andere Zeit mit all ihren dramatischen Verwicklungen und Folgen.

 

 

November 1932 - Mai 1933

Freundschaft. Vertrauen. Vermissen.  

 

Die beiden Galeristen Max Eisenstein und Martin Schulse betreiben gemeinsam eine Kunstgalerie in San Francisco. Beide verbindet nicht nur der Beruf, sondern vor allem eine tiefe, innige Freundschaft. Als Martin im Jahr 1932 mit seiner Familie nach Deutschland zurückkehrt und Max die Galerie vor Ort alleine weiterführt, pflegen sie ihre Freundschaft anhand eines regen Briefwechsels. Max vermisst seinen Freund, beneidet ihn jedoch um die Möglichkeit, in einem Land geistiger Freiheit, Demokratie und tief verwurzelter Kultur leben zu können. Martin berichtet unterdessen, dass sich die Familie in ihrer neuen Heimat gut eingelebt hat und in München zu den Wohlhabenden gehört. Die ersten Briefe beruhen auf ihrer tiefen Freundschaft und Verbundenheit, doch bereits nach kürzester Zeit wird in Martins Briefen erstes nationalsozialistisches Gedankengut erkennbar, auch wenn er zunächst Zweifel an der politischen Führung zulässt, die er Max anvertraut. Max verfolgt zugleich sehr aufmerksam und mit großer Sorge, was in Deutschland vorgeht und versucht noch, seinen Freund zur Vernunft zu bringen.

 

Juli - September 1933 
Enttäuschung. Verrat. Zerbrechen.

 

Mit zunehmender Machtübernahme Hitlers verändert sich auch die politische Gesinnung Martins dramatisch. Als Angestellter im öffentlichen Dienst arbeitet er für die  neue Regierung und tritt wie jeder, der etwas auf sich hält, der NSDAP bei. Er ist dem Führer immer mehr zugetan und bringt dies auch in seinen Briefen an den Juden Max deutlich zum Ausdruck.
Max liest die Zeilen mit großer Bestürzung. Er glaubt inständig, dass dies nicht Martins freie Meinung widerspiegelt, sondern lediglich der Zensur geschuldet sei. Er fleht seinen Freund an, ihm Klarheit zu verschaffen.
Doch diese Hoffnung zerschlägt sich. Martin verschreibt sich ganz und gar der Führung Hitlers, der Führung eines in seinen Augen tatkräftigen Mannes, der die Macht an sich nimmt und die Dinge anpackt. "Ich schließe mich ihm an! Deutschland folgt seinem Führer in den Triumph!", schreibt er, kündigt Max die Freundschaft und untersagt ihm jeden weiteren Briefwechsel.

September 1933 - März 1934
Verzweiflung. Fassungslosigkeit. Todesangst.

 

Als Max' Schwester Griselle - die ehemalige Geliebte Martins - ein Theaterengagement in Berlin antritt, nimmt Max doch nochmals Kontakt zu Martin auf. Er fleht seinen Freund an, auf sie aufzupassen und zu verhindern, dass sie von den Nazis als Jüdin enttarnt wird.
Bereits nach wenigen Wochen bleiben Max' Briefe an seine Schwester unbeantwortet. Die Angst wächst, immer wieder versucht Max Kontakt aufzunehmen und Informationen zu erhalten. Er schreibt seinem Freund Martin eindringliche Briefe, er müsse ihm doch Auskunft über den Verbleib seiner Schwester geben können.
Als einer seiner Briefe an Griselle mit dem Stempel "Empfänger unbekannt" zurück kommt, ist Max fassungslos. Durch unermüdliche Recherche erfährt er die Wahrheit. Ein letzter Funke Hoffnung macht sich in ihm breit: Griselle soll sich auf dem Weg nach München befinden. Dort würde Martin ihr helfen, dessen ist er sich sicher.
Martin berichtet ihm schließlich mit grausamer Sachlichkeit, wie Griselle bei ihm vor der Tür stand und er keine andere Möglichkeit hatte, als sie wegzuschicken, direkt in die Arme der SA. Der Briefwechsel und die Freundschaft der beiden scheinen endgültig beendet.
Doch die Geschichte ist es nicht.
Nur einen Monat später erreicht Martin Schulse ein weiterer Brief von Max. Das Blatt wendet sich. Max findet einen Weg, Martin zur Rechenschaft zu ziehen.
Einen Weg, sich für das zu rächen, was Martin ihm und seiner Schwester angetan hat.

 

Max' letzter Brief vom 3. März 1934 kommt zurück: Empfänger unbekannt.

 

 

Oktober 2019
Theater am Rand, Zollbrücke

 

Der Roman "Adressat unbekannt" (engl. Address Unknown), aus dem die Briefe von Max und Martin entnommen sind, wurde von der amerikanischen Journalistin Kathrine Kressmann Taylor verfasst und im Jahr 1938 in der amerikanischen Zeitschrift "Story" überaus erfolgreich publiziert. 1939 wurden die Briefe daraufhin erstmals als Buch veröffentlicht.
Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern gaben diesem Stoff einen Rahmen und verlegten die Handlung in ihr "Theater am Rand". Der Zuschauer wurde mit einer Ansage vom Band, die erklärte, dass das Theater kurz vor der Schließung stehe und das Finanzamt ihm eine Umnutzung auferlegt habe, buchstäblich in die Kunstgalerie "Randless Gallery of Modern Art" hinein katapultiert. Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern traten, begleitet von softem Jazz im Hintergrund, als moderne, vielbeschäftigte und international erfolgreiche Galeristen auf, die sich vor Anrufen und Anfragen kaum retten können und verbreiten eine angenehm lockere Atmosphäre.

Da bei der Bandansage am Anfang noch nicht direkt klar war, dass sie zum Stück gehört, ging bei dem Satz "Das Theater am Rand steht kurz vor der Schließung" ein Raunen durchs Publikum. So war den Akteuren die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer von Beginn an sicher.
Die Vorstellung begann mit kurzen Erzählungen über den Maler Kokoschka und seine - teils komplizierte und von Eifersucht geprägte - Liaison zu Alma Mahler.
Rühmann und Morgenstern unterhielten sich über die Gemälde Kokoschkas, immer wieder unterbrochen von Anrufen, die die anstehende Vernissage betrafen. Überraschend erreichte Morgenstern der Anruf aus Amerika. Die Hintergrundmusik setzte aus und der Fokus lag ganz auf dem Telefonat. Eine Journalistin sei auf die Galerie aufmerksam geworden, nachdem bei der Nachlassregelung eines entfernten Verwandten Morgensterns in Amerika Briefe gefunden worden waren.

 

Mit dem Eintreffen der Briefe änderte sich das Geschehen auf der Bühne. Weg von dem Bild der Kunstgalerie tauchte man ganz in den Inhalt der Briefe ein. Getragen von der anfänglichen Leichtigkeit und gemischt mit amüsanten Zwischenkommentaren, in Anlehnung an das Geschehen in der Randless Gallery, verlasen Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern den ersten Brief. Als der Inhalt der Briefe mit der Zeit kritischer und nachdenklicher wurde, übernahm Thomas Rühmann alleine die Rolle des Vorlesers. Tobias Morgenstern nahm seinen Platz am Flügel ein und begleitete die Texte so passend, dass Sprache und Musik buchstäblich zu einer Einheit verschmolzen. Er setzte die Inhalte und unterschiedlichen Stimmungen der Briefe einfühlsam musikalisch um und verlieh Rühmanns Worten damit Nachdruck. Mal sanfte, mal kräftige und düstere Klänge, mal volle Akkorde, mal einzelne Töne unterstrichen die Entwicklung und Entfremdung der beiden Freunde.
Thomas Rühmann rezitierte die Briefe mit gewohnter Souveränität. Seine Art, die Stimmungen der Texte präzise stimmlich umzusetzen war uns schon aus vielen anderen Stücken bekannt und überzeugte uns wieder einmal restlos. Er verstand es, durch mit Bedacht gesetzte Pausen beim Vortragen Spannung zu erzeugen, sowie besonders eindrückliche Abschnitte hervorzuheben. Nicht selten ertappten wir uns dabei, für einen kurzen Moment die Luft anzuhalten. Das Publikum hing an seinen Lippen und im Zuschauerraum herrschte zeitweise eine Stille, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

 

Die Tatsache, dass bei der Erwähnung Hitlers jemandem im Publikum ein erschrockener Laut entfuhr und dass während der Vorstellung Zuschauer das Theater verließen, zeigte, wie präsent und gleichzeitig kontrovers diese Thematik heute noch ist. Sollte man das Thema totschweigen oder es auf die Bühne bringen? Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern haben letzteres gewagt und damit gezeigt, dass sie keine Angst vor den Reaktionen der Zuschauer haben. Im Gegenteil: Dem Publikum wird dadurch der Spiegel vorgehalten. Je unterschiedlicher die Zuschauer ein Stück wahrnehmen, desto mehr wird darüber gesprochen, diskutiert und hoffentlich auch nachgedacht.

Rückblickend war „Empfänger unbekannt“ das bis jetzt kritischste Stück, welches wir gesehen haben und somit eine ganz neue – jedoch interessante und berührende - Erfahrung.  Durch die Nähe zum Publikum gelang es den Darstellern, die Stimmungen gezielt zu transportieren und die Zuschauer können sich gedanklich in dem Stück verlieren. 

Dieses Merkmal ist eine der vielen Besonderheiten im „Theater am Rand“ und zieht uns sowie viele andere Zuschauer schon seit vielen Jahren immer wieder an diesen Ort - „irgendwo am Rand.“


© Kathrin und Vanessa, 2019