Das Theater-Schiff "Sidd"

Foto: Berliner Zeitung

Artikel aus der Berliner Zeitung, 24. Juli 2010

Der Schauspieler Thomas Rühmann erzählt, wie er mit seinem Kollegen ein schweres, altes Schiff in ein Theater im Oderbruch brachte

Die Landschaft des Oderbruchs spielt im "Theater am Rand" eine wichtige Rolle. Wir haben das Theater 1998 in Zollbrücke an der Oder gegründet, ich und Tobias Morgenstern, der Akkordeonist ist. Als wir 2007 Hesses "Siddhartha" inszenierten, haben wir nach einer Verbindung zwischen dem Stück und dem Fluss gesucht. Zuerst war die Idee, abwechselnd im Theater und an der Oder zu spielen, aber das ging nicht. Man kann die Natur nicht doppeln. Wir standen da, sprachen die Texte und wurden klein wie die Fliegen vor der Gewalt dieser Landschaft.

Jetzt spielen wir den ersten Akt auf der Bühne vor einem blauen Rundhorizont, nehmen diesen im zweiten Akt weg, sodass nur noch eine Gaze als Trennwand bleibt, hinter der die Landschaft schon spürbar ist. Im dritten Akt überwindet Siddhartha seine Lebenskrise, er kommt zu einem Fährmann, und das Theater ist ganz offen. Der Abendwind zieht durch, im blauen Licht der Nacht liegt ein schönes Schiff, ein Ozeandampfer.

Wir wollten ein Schiff für unsere Inszenierung, und wir mussten es finden. Im Sommer 2007 zogen wir los. Bei Eisenhüttenstadt sollen alte Schiffe liegen, hatten wir gehört. Tobias und ich fuhren mit dem Auto den Fluss entlang. Bald entdeckten wir eine kleine Schiffswerft. "Sagen Sie mal, haben Sie nicht ein altes Schiff übrig?", fragten wir den Besitzer. Er hatte keins. Weiter abwärts kamen wir an ein riesiges Betriebsgelände voller Rost und Schrott. Am Wasser lag ein verrosteter Lastkahn. Der hat uns interessiert, aber wir hatten es eigentlich auf ein anderes Schiff abgesehen. Es hatte eine lustige Form, sah aus wie ein fliegendes Schiff. Leider kriegten wir das Schiff nicht. "Ich habe noch eins, schauen Sie mal", sagte der Mann, mit dem wir sprachen. Es war verrostet, archaisch, morbide, wandelbar. Es sah aus wie ein Patrouillenboot, wahrscheinlich aus den Sechzigerjahren. Wir haben es gemietet. Das Schöne ist: Es kommt aus Magdeburg, wo ich als Junge Flaschenpost in die Elbe geworfen habe.

Dann kam der Tag, an dem das Schiff von einem größeren Kahn, an dem es seitlich festgemacht war, stromabwärts nach Zollbrücke gebracht wurde. Das ging problemlos. Am nächsten Morgen, es war ein Samstag, hielt ein Streifenwagen vor dem Theater. Die Polizisten wollten wissen, wo das Schiff herkommt und warum es hier liegt. Ich erfuhr, dass man ein Schiff nicht einfach irgendwo aus dem Fluss nehmen kann. Es gibt dafür Entnahmestellen. Die nächste lag einen Kilometer flussabwärts. Von dort hätten wir das Schiff unmöglich bis zu unserem Theater bringen können. Es erwies sich als Glück, dass wir einen Verbündeten beim Umweltamt hatten. Wir riefen ihn an, er kam sofort, sprach mit der Polizei und wir bekamen eine Ausnahmeerlaubnis für unser Schiff.

Am nächsten Tag standen ein Drehkran, ein Traktor und ein Tieflader am Ufer. Den Traktor fuhr Holger Rüdrich, ein Freund von uns. Er hat im Theater alle Holzarbeiten gemacht, alles, was nicht Zimmermannsarbeit ist. Das ist ein richtiger Handwerker mit einem kleinen Betrieb im Oderbruch. Rüdrich konnte einen Kran mieten, auch den Tieflader hatte er besorgt. Der Tieflader sah nicht sehr vertrauenserweckend aus, er war fast so verrostet wie das Schiff.

Das Schiff wiegt ungefähr 12 Tonnen. Als der Autodrehkran es auf dem Tieflader absetzte, bogen sich die Reifen mit einem bedrohlichen Geräusch durch. Der Tieflader konnte noch fahren, aber es sah gefährlich aus. Ich dachte: Der muss jetzt durch die Deichscharte, dann an den parkenden Autos vorbei, 250 Meter die Straße runter, am Theater um die Kurve. Erst da ist mir bewusst geworden, worauf wir uns eingelassen hatten.

Zentimeter für Zentimeter schob sich der Tieflader durch die Deichscharte. Oben saßen die Störche in ihrem Nest. Die Störche gucken sonst überhaupt nicht. Aber als das Schiff unter ihnen entlangglitt, verfolgten sie es aufmerksam.

Die Straße hinunter ging alles gut. Es war ein Bild voller Schönheit. Ich habe Fotos davon. Diese schnurgerade Straße ins Land, die Sonne kommt von oben. Dort bewegte sich das Gefährt. Es war ein bisschen wie in dem Film "Fitzcarraldo" von Werner Herzog, als er das Schiff durch den Urwald ziehen lässt.

Am Theater musste Rüdrich mit dem Tieflader um die Kurve. Er holte sehr weit aus, da passierte es: Das linke, hintere Rad rutschte von der Straße in den weichen Rasen. Die ganze Konstruktion begann zu kippen. Sehr langsam. Leute aus dem Ort waren auf die Straße gekommen, ein paar Männer im Blaumann, die eben noch mit verschränkten Armen und skeptischem Blick dagestanden hatten: "So wird das nichts", rief einer, "Stopp! Stopp!" Ein anderer versuchte, etwas unter das Rad zu schieben. Ich rannte um den Tieflader herum und wusste nicht, was ich machen sollte. Dann kam der Moment, wo ich mir die Augen zuhielt, denn links neben dem langsam sinkenden Schiff war ein Strommast, dahinter der Parkplatz voller Autos. Es war die Zehntelsekunde, in der eine Wirklichkeit in eine völlig andere zu kippen droht.

Wie durch ein Wunder geschah nichts, das Schiff verharrte in dieser Schieflage. Das vordere, rechte Rad des Tiefladers stand in der Luft. Morgenstern und ich verständigten uns mit einem Blick. Wir folgten dem gleichen Impuls: Zurück zum Fluss, zum Kran. Tobias holte sein Fahrrad aus dem Stall. Ich weiß nicht mehr, wer von uns schneller war. Wir sagten dem Kranfahrer: "Sie müssen noch mal ran!" Es dauerte eine Viertelstunde, ehe er unten an der Kurve war. Das Schiff hielt durch.

In den Sekunden, als wir dachten, jetzt kracht es auf den Strommast und die Autos, sagte Tobias Morgenstern trocken: "Thomas, wirklich schlimm ist nur Personenschaden."

Der Kran zog den Tieflader wieder hoch. Er setzte dann noch ein drittes Mal auf, vorn am Theater und hob das Schiff in den Garten, an die Stelle, wo es jetzt liegt.

Wir sind fünf Schauspieler und ein Musiker. Wir haben alle schon viel Theater gemacht, aber die Arbeit an "Siddhartha" war etwas ganz Besonderes. Es ist die Energie, die in dem Vorgang dieses Tages lag, die eingeschrieben ist in diese Inszenierung.

Wir hatten uns entschieden, "Siddhartha" nicht geradlinig zu erzählen. Alle fünf erzählen die Geschichte, jeder aus seinem Blickwinkel. Dadurch springen wir unentwegt in den Sätzen hin und her. Wir hatten drei Wochen, das zu erarbeiten. Matthias Brenner hat parallel in Magdeburg inszeniert. Er fuhr nachts nach den Proben rüber nach Magdeburg, machte dort eine Frühprobe am Theater und kam nachmittags wieder her. Das war mörderisch. Wir anderen haben auch anderswo gedreht und gearbeitet. Ursula Karusseit wohnte während der Proben in ihrem kleinen Campingauto. Wir haben die Texte gebimst, gebimst, gebimst. Das Verrückteste war, dass diese Geschichte, die wir gar nicht religiös deuten, unsere Erinnerungen berührte. Das führte dazu, dass wir uns unsere Leben erzählt haben. Wir haben viel gelacht über unsere Geschichten, über die Niederlagen unseres Lebens.

Dann kam die Generalprobe, wir waren im Kostüm. Draußen wurde genagelt, gehämmert, gebohrt, die Techniker bauten am Vorhang. Matthias Brenner, der den Kaufmann Kamaswami spielt, saß in einem Sessel und sprach die Rolle. Plötzlich ging vor ihm der Vorhang zu. Er ließ sich überhaupt nicht stören. Der Vorhang ging wieder auf. Er spielte weiter. Der Vorhang ging wieder zu. Wir mussten die Probe unterbrechen, so haben wir gelacht. Ein Schauspieler, der bei geschlossenem Vorhang weiterspielt und sich nicht vom Sägenkreischen stören lässt, das ist ein Bild!

Die Leute bleiben oft stehen und schauen, wenn sie an unserem Theater vorbeikommen. Sie denken, das Schiff ist vom Hochwasser hier liegen geblieben. Weil es so eingewachsen ist. Gestrandet.

Aufgeschrieben von Kathrin Schrader
 
Quelle: www.berlinonline.de

Hier findet ihr Fotos von dem Schiff, die wir selbst gemacht haben.
Wir bitten darum, die Fotos nicht ohne unsere Erlaubnis zu verwenden.
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